Kulturerbe-digital
„Wir machen Zeit sichtbar“
Mit modernen Methoden
der Fernerkundung
erforscht Nicola Lercari
historische Stätten.
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Leise surren die sechs Rotoren, noch steht die mächtige Drohne wie ein großes Insekt am Strand von Heloros auf Sizilien. Der heftige Wind der vergangenen Tage, der ihren Start unmöglich gemacht hatte, ist abgeflaut. Auch Touristen sind um sieben Uhr morgens noch keine da. Und so kann Nicola Lercari endlich den Erkundungsflug über die 2.800 Jahre alte griechische Stadt starten, die oben auf den Felsen über dem Strand lag.
Mehrere Tausend Menschen lebten einst in Heloros.
Nur wenige Überreste von Heloros sind dort zu sehen, ein Teil der Stadtmauer sowie die Grundmauern einiger Tempel, die Überreste eines Marktplatzes und ein schwer beschädigtes Theater. Mehrere Tausend Menschen lebten einst dort, die Stadt spielte eine zentrale Rolle bei der griechischen Besiedlung des Südwesten Siziliens. „Die meisten Strukturen verbergen sich in der Erde“, sagt Lercari. Beispielsweise weite Teile der alten Stadtmauer, verschiedene Wohnviertel oder die Spuren von Wegen in die Umgebung bis hin ins 30 Kilometer entfernte Syrakus, der größten Stadt der Region, die Korinther dort als erstes gegründet hatten und die im Zentrum von insgesamt wohl zwölf Satellitenstädten wie Heloros lag.
Nach all dem soll die Hightech-Drohne des LMU-Forschers aus der Luft fahnden. Ausgerüstet mit einer hochauflösenden Kamera, einem Infrarotsensor und einem sogenannten Lidar, das mit Laserlicht die Oberfläche abtastet, schwebt das neu angeschaffte, mit viel Präzisionselektronik versehene Gerät über der hügeligen sizilianischen Landschaft, 50 Meter hoch, exakt mit GPS-Navigation auf Position gehalten. „Auch bei windigen Bedingungen fliegt die Drohne sehr stabil“, sagt Lercari. Das ist entscheidend für die Qualität der Lidar-Daten.
Im Zentrum von Lercaris Arbeit stehen modernste Methoden der Fernerkundung. Damit verschaffen er und sein Team sich wie aktuell in Heloros einen Überblick. „Früher kämpften sich Forscher monatelang zu Fuß durch den Dschungel oder durch unwirtliche Gegenden, um Ruinen zu finden. Heute fliegen wir einen Tag lang mit einem mit Lidar ausgestatteten Flugzeug oder eben unserer eigenen Drohne und finden die Kulturerbestätten später im Labor “, sagt Nicola Lercari.
Prof. Nicola Lercari
leitet das Institut für Digitale Kulturerbestudien an der LMU, das er als Lehrstuhlinhaber auch aufgebaut hat.
Lercari, Jahrgang 1982, studierte Kommunikationswissenschaft an der Universität Genua, Italien, sowie Film- und Medienproduktion an der Universität Bologna, Italien. An der Duke University arbeitet er als Postdoc. Promoviert wurde er dort in History and Computing. An der University of California at Merced war er zunächst Postdoc am Department of Humanities and World Cultures, später Assistant Professor am Department of Anthropology and Heritage Studies und zuletzt Associate Professor of Heritage Studies, bevor 2022 an die LMU berufen wurde.
Zwölf Einsätze, drei Quadratkilometer, eine Landschaft in 3-D
Archäologen haben mit den neuen Methoden ganz neue Möglichkeiten, großräumig uralte Kulturstätten zu erfassen und in manchen Fällen sogar vor der Zerstörung durch Krieg, Naturkatastrophen und Erosion zu bewahren, das ist Lercaris Mission. Die mithilfe von Computerprogrammen aufbereiteten Daten können erfahrenen Archäologen sowohl helfen, Rätsel der Vergangenheit zu lösen, Orte und ihre Geschichten zu verstehen wie auch diese untergangenen Orte vor dem weiteren Verfall und dem endgültigen Vergessen zu bewahren.
Orte vor dem Vergessen bewahren
Zwölf Einsätze über Heloros flog Lercari mit seinem Team aus dem HADES-Projekt (Heloros Advanced Digital Exploration and Surveying), erfasste ein Gelände von drei Quadratkilometern Größe, fast 420 Fußballfelder groß. Die Hightech-Geräte an Bord nahmen dabei im Überflug dreidimensionale Daten des Geländes auf, hochaufgelöste Bilder und Milliarden von Messpunkten landeten im Speicher der Instrumente, so entsteht im Lauf einer Messkampagne im Computer eine Landschaft mit Gebäuden in 3-D und präziser Topographie. Jeder Messpunkt ist mit exakten Geodaten versehen. Dafür ist es nicht nur notwendig, die Drohne bei Wind gut in Position zu halten, die Geodaten müssen auch in Echtzeit festgehalten werden.
Mit einer Genauigkeit auf Millimeterebene scannten Lercari und sein Team die Ruinen und Stadtstrukturen, sogar von Details, die im dichten Gestrüpp der süditalienischen Macchia verborgen sind. „Wir wussten nicht, ob die Instrumente auch die dicht stehenden Büsche durchdringen können“, sagt der Wissenschaftler. „Aber das klappt sehr gut.“ Der Experte für Digitale Kulturerbestudien an der LMU lacht. „Sogar im Flachwasserbereich konnten wir Teile des Meeresbodens erfassen, das hat bislang noch kein Lidar an Bord eines Flugzeugs geschafft.“
Möglicherweise helfen die Daten zu Heloros und dem umliegenden Marschland künftig, den bislang noch nicht entdeckten antiken Hafen zu finden, kein einfaches Unterfangen, denn die Küstenlinie hat sich in 2.800 Jahren deutlich verändert. An Land hat Lercaris Team Spuren der antiken Fahrspuren von Fuhrwerken entdeckt, die jahrhundertelang auf derselben Strecke verkehrten. Sie könnten Hinweise auf das Straßennetz geben, auf dem griechische Waren transportiert wurden. Auch große Steinbrüche in 3-D und ihre Zufahrtswege erfasste es, auf denen das Material in die Stadt kam.
Wenn wir die Straße nach Syrakus entdecken würden, wäre das großartig!
Heloros hatte offenbar während seiner hellenistischen Phase beeindruckende Befestigungsmauern, ein gewaltiges Nordtor, ein großes Theater, mehrere Tempel und war städtebaulich einzigartig geplant. So soll nach und nach das große Bild der Stadt und seiner Verbindungen ins Umland entstehen, genau hier können Technologien neue Interpretationsmöglichkeiten liefern. „Wenn wir die Straße nach Syrakus entdecken würden, wäre das großartig“ , sagt Lercari. Ihm geht es darum, zu zeigen, wie sich die Stadt im Lauf der Zeit entwickelt hat. „Wir machen Zeit sichtbar.“ Sein Traum ist es, einmal auch die bislang kaum ausgegrabene Stadt für Touristen zu öffnen.
Ermittelt aus der Luft, ohne einen Spatenstich am Boden
Das Besondere an Lercaris Ergebnissen ist der Grad der Genauigkeit in der Information über längst untergegangene Kulturstätten, ermittelt aus der Luft in bislang unerreichter Geschwindigkeit,. „Die Präzision der Daten verändert das Spiel“, sagt Lercari. „Sie ermöglicht es, historische Stätten millimetergenau dreidimensional zu dokumentieren und so auch in digitaler Form für künftige Generationen zu erhalten oder archäologische Merkmale in der Landschaft zu identifizieren, ohne dass Grabungen erforderlich sind.“
Wir können die Daten in Echtzeit auswerten.
An der LMU baut Lercari gerade ein eigenes Institut für Digitale Kulturerbestudien auf. Die neuen Visualisierungsmethoden und automatisierte Techniken erlauben es, mithilfe der Daten Korrelationen zwischen einzelnen Gebäuden und ihrer Umgebung zu entdecken, etwas, das mit bisherigen archäologischen Methoden so bisher nicht möglich war. Auch im Einsatz vor Ort bringt die technische Entwicklung sowohl bei der Drohnen- wie bei der Lidar-Technologie enorme Vorteile: „Wir können die Daten inzwischen praktisch in Echtzeit auswerten“, sagt Lercari. „Finden wir am Morgen ein interessantes Objekt oder eine Anomalie in den Daten, können wir am selben Tag im Feld nachschauen, was sich dort verbirgt, früher mussten wir monatelang warten, ehe die Daten ausgewertet waren.“ Das HADES-Projekt in Heloros ist dabei so etwas wie ein Modellvorhaben, das alle Möglichkeiten der digitalen Erfassung und Auswertung ausreizt, das zeigen soll, wie hilfreich Daten sein können beim Verständnis einer vergessenen Stadt und ihrer Geschichte.
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Vergangenheit, 3D gescannt
Älteste Siedlung der Menschheitsgeschichte
Lercari erzählt von seinen Anfängen an der Universität Bologna, wo er zunächst im Bereich Geschichte und Kulturwissenschaften begann. Er beschäftigte sich mit der Stadtgeschichte, nutzte dabei digitale Methoden. Die Verbindung von Geschichte und Computerwissenschaften reizte ihn. Konkret ging dabei darum, eine Technik zu entwickeln, um die mittelalterliche Stadt mit ihren zahlreichen Türmen aus dem 13. Jahrhundert virtuell zu rekonstruieren und zu visualisieren. Er wollte an der Schnittstelle von Archäologie, Museumskunde und Informatik arbeiten. Und so ging er in die USA an die Duke University und dann an die University of California Merced, wo er bis zu seinem Ruf an die LMU Assistenzprofessor für Heritage Studies war und sich immer mehr damit beschäftigte, wie man im digitalen Zeitalter das Kulturerbe besser bewahren kann, mit digitalen Mitteln.
Eine Art soziales Gedächtnis
Aus dieser Zeit stammen auch ein großes Daten- und 3-D-Visualisierungsprojekt in der neolithischen Siedlung Çatalhöyük in de r Türkei, einer der ältesten und besterhaltenen Siedlungen der Menschheitsgeschichte. Sie ist für das Verständnis früher Agrargesellschaften im Nahen Osten und Fragen der Sesshaftwerdung von großer Bedeutung. Dort hat Lercari die Nutzung des Raums im Lauf der Jahrhunderte untersucht, die Siedlung ist typisch für die Generationen von Häusern, die sich an einem Ort überlagern. Für Lercari bildet sich darin eine Art soziales Gedächtnis ab. Es sei dabei auch um eine Erweiterung der Grabung gegangen, „3-D-Ausgrabung haben wir das damals genannt“, erzählt Lercari. Es ging darum, mithilfe digitaler Aufnahmen und der Scanning-Technologien die Räume der Siedlung zu erfassen und sie mit zusätzlichen Informationen visuell anzureichern, um sie so besser interpretieren zu können. „Schon lange bevor sich der Begriff der Digitalen Geisteswissenschaften weltweit durchsetzte, nannte ich mich einen humanistischen Computerwissenschaftler, inzwischen würde ich mich eher als Spezialisten für digitales Kulturerbe bezeichnen“, sagt Lercari. Er habe zwar viel mit der Entwicklung neuer technischer Untersuchungsmethoden zu tun, aber es ginge immer auch um die menschliche Ebene, darum, das Leben der einstigen Bewohner der neolithischen Siedlung zu verstehen, ihre Rituale und die Funktionsweise der Haushalte.
Sein Fach hat innerhalb der Archäologie in den vergangenen Jahren einen Schub bekommen durch spektakuläre Lidar-Aufnahmen versunkener Dschungelstädte und Tempel aus der Luft, in der kambodschanischen Tempelanlage Angkor Wat etwa, in deren Umland Forscher vor rund zehn Jahren unter den Wäldern verborgen Siedlungsreste einer mittelalterlichen Riesenmetropole entdeckt haben.
Stadt im Dschungel
Lercari wiederum gelang es im mexikanischen Palenque, im Dschungel verborgene Gebäude und Strukturen zu erkennen und ihre Funktion zu bestimmen. „Wir haben dort Wasserkanäle entdeckt, die die Farmen von Palenque versorgt haben“, erzählt Lercari.
„Das war einmal eine große Stadt mit einer ausgeklügelten Wasserversorgung und Infrastruktur.“
Es gebe dort viele Fragen zu klären, etwa wie verschiedene Viertel der Stadt zum Stadtleben beigetragen haben oder ob Eliten, die in der Umgebung der Königsplätze lebten, von dieser Nähe profitierten. Die Perfektionierung der Techniken hat damit auch die Altertumswissenschaften bei wichtigen Fragestellungen deutlich vorangebracht. Mit deutlich geringerem Aufwand lassen sich auch größere Areale detailreich und präzise scannen – aus der Luft. Nicht nur, dass sich die Forscher darum nicht mehr monatelang durch unwegsames Gelände kämpfen müssen, weil Lidar in der Lage ist, das Blätterdach der Bäume oder Sträucher zu durchdringen. Die Wellenlänge des verwendeten Lichts wird von den Blättern nicht absorbiert.
Eine Frage des Überblicks
Lercaris Daten machen es auch möglich, Fragen zu beantworten, für die es manchmal eben auch den Überblick, den Blick von oben braucht. Aus den Datenscans, die vom Gelände im Überflug aufgezeichnet werden, entstehen dreidimensionale Aufnahmen der Landschaft, von Ruinen und Stadtstrukturen. Sie verhelfen nicht nur mitunter zu neuen Funden, sondern sind manchmal auch so präzise und überraschend, dass sie, wie Lercari es formuliert, „manchen alten Stätten neues Leben einhauchen“.
Text: Hubert Filser
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